Wo stehe ich?

Es war eine Nacht, 15 Stunden oder 900 Minuten und eine große Gedankenwelle löste sich in mir aus.

Ich stehe vor einem kleinen Haus und starre auf einen wachsenden Maiskolben. Die Morgensonne beleuchtet den Mais. Ich frage mich, wie arrogant ich bin, wie ignorant ich war und wie sehr sich meine Gedankengänge eigentlich verändern.

Ich reflektiere die letzten 14 Stunden. Gestern um halb 5 marschierten eine Frau vom Frauenhaus und ich los. Ich durfte sie Zuhause besuchen und die Nacht bei ihr und ihrer Familie verbringen.

Wir liefen über Hügel, auf Sandwegen, auf Forststraßen, neben Bergen und über Bäche. Sammeltaxis waren weit und breit nicht mehr zu sehen- wir sind ja schließlich weit von der Hauptstraße entfernt. Die Stimmung war wunderschön. Die Sonne beleuchtete die Umgebung. Nicht lange blieb diese bei uns und sie verschwand hinter einem Berg. Kurz darauf waren wir auch schon Zuhause, nach 1,5 Stunden. Wir marschierten 1,5 Stunden zu Fuß!! Die kleine Tochter lief mir in die Arme. Ich ruhte mich aus. Die Mutter jedoch fokussierte sofort die Kochtöpfe und fing an, im Taschenlampenlicht Sadza und Kürbisblätter mit Huhn zu kochen. Nicht lange und wir hatten einen Teller mit der Tageshauptmahlzeit auf dem Schoß. Während dem Essen unterhielten wir uns. Die lebendige Tochter machte Witze.

Nachdem wir unsere Bäuche füllten, richteten wir auch schon den Schlafplatz her. Eine Strohmatte mit Decken breiteten wir auf dem Steinboden aus. Eine dicke Decke darüber und fertig war der Schlafplatz der Tochter und mir. Um 8 Uhr lagen wir im Bett- es war stockdunkel. Das Mädchen und ich wärmten unsere Füße. In der Nacht wachte ich hin und wieder auf- der Gockel krähte, der Boden war hart und die unbedeckten Körperteile waren kalt. Ich musste sie unter die Decke ziehen. Um halb 6 wurden wir aufgeweckt. Ich war ausgeschlafen, wollte aber aufgrund der eingezogenen Kälte meinen Schlafplatz nicht verlassen. Meine kleine Freundin wachte auf und strahlte mich an. Sie fragte mich, wann ich wieder komme.

Die Mutter? Sie stand um 4 Uhr auf, wusch das gestrige Geschirr, kehrte und wischte den Boden, die Terrasse und die Küche. Sie kochte Wasser auf dem Feuer auf und machte Frühstück.

Ich bekam einen Kübel mit heißem Wasser. Sich in dieser Kälte draußen zu waschen ist eine Herausforderung. Das Mädchen und ich duschten uns nebeneinander. Das heiße Wasser dampfte noch mehr als mein Atem. Ich brauchte auch gar nicht lange und war wieder angezogen. Anschließend bekamen wir das Frühstück serviert- Bohnen mit Ei. Ich freute mich über das Essen und meine 2 Pullover.

Und dann? Dann stehe ich vor ihrem kleinen Haus und starre auf einen wachsenden Maiskolben. Die Morgensonne beleuchtet den Mais. Ich frage mich, wie arrogant ich bin, wie ignorant ich war und wie sehr sich meine Gedankengänge eigentlich verändern.

Ich verstehe diesen großen Unterschied unserer Einstellungen nicht. Sind wir nicht alle gleiche Menschen?

Warum schimpfen Österreicher, wenn sie 40 Minuten zur Arbeit fahren müssen? Warum wache ich in der Nacht mit negativen Gedanken über den harten Boden auf? Warum beschweren sich viele Menschen „bei uns“ über ihren niedrigen Lohn, wo der dieser Frau wohl reichlich niedriger ist- ganz ohne die Umstände zu betrachten? Warum nörgeln wir in Österreich oft über die Kälte und drehen dann im Haus die Heizung auf? Warum rede ich über Probleme, die so klein sind, dass sie gar nicht mehr als Probleme angesehen werden sollten? Warum wünsche ich mir oft mehr im Kühlschrank, obwohl dieser bereits so eine große Vielfalt anbietet? Warum ärgere ich mich über lange Wartezeiten beim Arzt, obwohl ich die Möglichkeit habe, diesen überhaupt zu sehen? Warum will ich die kürzesten Strecken mit dem Auto geführt werden? Warum nervten mich oftmals Schularbeiten, obwohl ich lernen darf?

Mit dem Bus zu fahren, 1 Woche täglich ein anderes Gericht am Tisch stehen zu haben, in die Schule zu gehen, gesund zu sein, Bücher zu haben, fernzusehen, sich ohne großen Gedanken lange Telefonate zu leisten, Freizeitaktivitäten nachzugehen, ein eigenes Zimmer und Bett zu besitzen, Licht anzuschalten, dauerhaft Strom zu haben, der Nahrungspyramide zu folgen, auf Urlaub zu fahren, Wochenendausflüge zu machen, Essen unterwegs zu kaufen, Zugang zu sozialen Netzwerken zu verwenden, einen vollen Gewandkasten zu besitzen, fließendes, sauberes Trinkwasser zu trinken, fortzugehen,....ist das Alltag... oder vielleicht Luxus?

Diese Welt ist voll von Unterschieden. Gehe ich von meiner Lebensweise in Österreich aus, sehe ich verglichen zu der dieser Frau überwiegend Privilegien. Gehe ich von der, dieser Frau aus, verstehe ich diese, meine Welt nicht. Sie ist so weit weg.. Wo stehe ich?

Ich stehe vor einem kleinen Haus und starre auf einen wachsenden Maiskolben. Die Morgensonne beleuchtet den Mais. Ich frage mich, wie arrogant ich bin, wie ignorant ich war und wie sehr sich meine Gedankengänge eigentlich verändern. Ich stehe weit weg von meinem Zuhause in Österreich. So kommt es mir im Herzen vor..